Ein kleiner Nachruf für Swetlana

Ein kleiner Nachruf für Swetlana

Einige unserer Website-Besucher wissen es wohl schon – Swetlana, unsere Sweta, Swétotschka, eines unserer ältesten Sorgenkinder, nicht an Lebensjahren, aber an Bekanntschaftsjahren, ist gestorben.

Wir lernten Swetlana durch unsere damalige Sozialarbeiterin kennen. Swetlana, erzählte diese uns, leide an multipler Sklerose, sie würde sich freuen über einen Besuch, über ein wenig Abwechslung und Gesellschaft. So fuhren wir ins Dorf Lopatino, wo Swetlana mit ihrer Mutter, ihrem Töchterchen Jana und einer jüngeren Schwester lebte.

Das Häuschen, in dem die Familie wohnte, war recht ordentlich, verglichen mit vielen anderen Behausungen, die wir schon erlebt hatten. Ein kleiner Gemüsegarten rundete den guten Eindruck ab. Swetlana erwartete uns am Küchentisch sitzend, und wir erblickten zu unserer Überraschung eine junge Frau, der man trotz der deutlichen Anzeichen ihrer Krankheit ansah, dass sie einmal sehr schön gewesen war. Sie hatte wohl auch das Bedürfnis, uns das wissen zu lassen. Sie zeigte uns später Fotografien, die uns das Herz zuschnürten: Ein blühendes junges Mädchen, mit einem dicken, blonden Zopf bis in die Kniekehlen. Eine echte russkaja krassáwiza, eine russische Schönheit. Swetlana hatte auch eine ganz besondere Art. Sie wusste sich zu benehmen, sie besass Gesprächskultur, wir konnten uns mit ihr über alles Mögliche unterhalten, während wir zusammen sassen und den ausgezeichneten Kräutertee tranken, den ihre Mutter aus selbst gesammelten Kräutern braute. Sie fragte nach unserem Befinden und dem Befinden unserer Angehörigen, und wenn sie bei späteren Besuchen wieder danach fragte, merkten wir, dass sie keineswegs vergessen hatte, was wir das letzte Mal erzählt hatten. Sie schrieb auch kleine Gedichte, eines davon widmete sie der Stiftung RADUGA, von der sie uns immer wieder sagte, wie viel sie ihr bedeute – die Gewissheit, nicht vergessen, nicht allein gelassen zu sein.

Sweta pflegte uns, wenn wir sie in der Folge besuchten, bis zur Eingangstüre entgegen zu kommen, sich an Möbeln und Wänden festhaltend. Aber es kam der Tag, da ihr das nicht mehr möglich war. Sie vermochte nur noch zu sitzen, eine Weile noch auf dem Hocker in der Küche, und dann im Rollstuhl. Als sie auch dafür zu schwach wurde, empfing sie uns auf dem Bett liegend. Ganz besonders schmerzlich war es, dass wir sie mit der Zeit nicht mehr verstehen konnten. Jana, die mittlerweile zu einem jungen Mädchen herangewachsen war, sass als treue Dolmetscherin am Bettrand.

Aber noch viel schmerzlicher war etwas anderes. Sweta, unsere kluge, feine Swétotschka, trug einen Groll in ihrem Herzen: Sie konnte ihrer Mutter nicht verzeihen, dass diese ihr bei ihrer Erkrankung nicht die mütterliche Fürsorge und Anteilnahme hatte geben können, die sie so dringend gebraucht hätte, weil die Mutter zu dieser Zeit schwer alkoholkrank war. Inzwischen war sie von ihrer Sucht vollständig geheilt, was wir, aufgrund unserer Erfahrungen, als grossartige Leistung einschätzten, und sie machte ihr Versäumnis tausendfach wett, als die Zeit kam, da Sweta für ihre intimsten Verrichtungen und auch für das Essen und Trinken auf Hilfe angewiesen war. Wie oft, wie dringend baten wir sie, ihrer Mutter endlich zu verzeihen. Unsere Vertrautheit erlaubte uns, ganz offen mit ihr über ihr wohl bald bevorstehendes Ende zu sprechen, und über die Last, die sie mit dieser Unversöhnlichkeit mit sich tragen würde. Aber alles Zureden war vergebens.

Das dauerte viele Jahre. Als Sweta schliesslich künstlich ernährt werden musste, war die Pflege zuhause nicht mehr möglich, sie wurde ins Spital verbracht. Auch dort waren es zum grössten Teil die Mutter und Jana, die sie betreuten. Sweta konnte nicht mehr sprechen und sich nicht mehr bewegen, bei unseren letzten Besuchen konnte sie noch mit grosser Mühe die eine Hand etwas heben, aber wir sahen ihren noch immer schönen Augen an, dass sie uns erkannte – wir vermeinten sogar etwas wie Freude darin zu bemerken.

Und nach vielen, allzu vielen weiteren Monaten konnte Swetlana endlich sterben. Die Ärzte hatten ihren baldigen Tod schon viele Jahre vorher prophezeit. Was hielt sie so lange an diesem so trostlosen Leben? Was war es, das sie nicht loslassen konnte, oder nicht loslassen wollte? Oft stellten wir uns diese Frage, und wir stellen sie uns noch immer. Wir haben Swétotschka in guter und liebevoller Erinnerung. Und wir sind sicher, dass sie jetzt ihrer Mutter endlich verziehen hat.

Monica Chappuis

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