Russland verstehen

Russland verstehen

Vom 7. bis 25. Mai 2015 fand ich im Haus der Stiftung RADUGA in Tarussa Heimat, und zwar im wörtlichen Sinn. Schon seit meiner Kindheit spürte ich eine Liebe zu Russland, seinen Kirchen, seinen Literaten, seinen Malern, und zum Land. Meine Pensionierung und das Kennenlernen von Frau Monica Chappuis, Präsidentin der Stiftung RADUGA und Vizepräsidentin der russischen Stiftung Raduga Tarusskaja, ermöglichten mir einen Einsatz in dieser Stiftung.

Vorweg – ich wurde berührt und bewegt – von der Arbeit in der Stiftung, ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und der Energie und dem Einsatz ihres Mitgründers und gleichzeitig Projektleiters Jörg Duss. Seine Devise: Hilfe zur Selbsthilfe, den Ärmsten und Verlassenen einen Ausweg aus schwierigsten Situationen aufzuzeigen. Es werden Essenspakete an einsame, arme Menschen verteilt, Schulen bekommen gesunde Nahrungsmittel, um selber eine gute Mittagsmahlzeit zu kochen, im Kleiderlager holen sich Mütter noch tragbare Kleider und Schuhe, zum Teil von Russinnen gespendet, für sich und ihre Kinder. In einigen abgelegenen Dörfern wurden die Ambulatorien, die als „Erste Hilfe“-Stellen der Bevölkerung bei leichteren Krankheitsfällen den Weg ins Spital ersparen, nach Möglichkeit etwas modernisiert.

Land gibt es in Russland genug, erzählt mir Jörg Duss, und es ist unkompliziert es auch zu nutzen. So versucht er nun mit seinem Biobauerhof andere Kleinbauern, die etwa eine Kuh, ein Schwein, Schafe und ein paar Hühnerbesitzen, zu ermutigen, es ihm gleichzutun und mehr zu produzieren, als sie für ihre eigene Familie benötigen. Er wird ihnen als Ansporn die Weiterverarbeitung und den Absatz ihrer Produkte garantieren. Diese können auf dem Markt in Tarussa verkauft werden, aber Jörg Duss hat auch bereits einen recht grossen Kundenkreis in Moskau, der seine Bio-Produkte schätzt, und bereits übertrifft die Nachfrage das Angebot. Die Idee der Stiftung: Hilfe zur Selbsthilfe ist überall spürbar. Das scheint im Gebiet Tarussa sehr gut anzukommen.

Dank der Begleitung von Tamara Michajlowna(79), die ihre Wohnung verloren hat und deshalb im Stiftungshaus wohnen kann, und dank den Sozialeinsätzen, vermittelt durch die Sozialarbeiterin Swetlana Wassiljewna, lernte ich viele Menschen kennen. Eine solche Gastfreundschaft, Herzlichkeit und Interesse an meinem Leben und dem Leben in der Schweiz habe ich noch nie erlebt. Gleich am zweiten Tag, dem 9. Mai erlebte ich zusammen mit ca. 1000 jungen und alten Menschen die 70 Jahr-Feier zum Ende des 2. Weltkrieges. Ein sonniger und friedlicher Tag mit Ehrungen der Veteranen, dann ein Umzug zum Festplatz. Im lichten Birkenwald war eine Bühne aufgestellt worden. Aus grossen Töpfen wurde Kascha (Buchweizengrütze mit Fleischstücken) ausgeteilt, überall verteilt sassen Jung und Alt unter den hellgrün spriessenden Birken gemütlich auf dem Boden und freuten sich an den Ballett- und Gesangsdarbietungen. Es war so friedlich, ich fühlte mich zurückversetzt in meine Jungend, an die 1. Augustfeiern auf dem Lande, nur gab’s bei uns damals eine Bratwurst und in Tarussa Kascha, wir schwenkten Schweizerfähnli und hier sah man die russische Fahne und viele rote Nelken.

Dann lernte ich die durch einen Hirnschlag einseitig gelähmte Maria (75) kennen. Ich durfte ihre Datscha, die sie im Sommer bewohnt, wieder etwas auf Vordermann bringen. In ihrem wunderbaren Garten und in der gemütlichen Datscha musste ich mich einfach wohlfühlen. Ohne fliessendes Wasser und Toilette im Haus, und mit einem mangels Regen praktisch leeren Brunnen, meistert Maria ihr Leben im Sommer auf dieser Datscha und war unendlich dankbar und glücklich, dass ich ihr wieder einiges in Ordnung bringen konnte. Sie kochte zum Mittagessen Kartoffeln mit Sauerrahm und dazu Tee. Es war einfach wunderbar. Für mich war es an diesem schönen Vorsommertag, unter blühenden Obstbäumen und singenden Vögeln, eine Freude, die Fenster usw. zu putzen. Am Abend schliefen wir zu dritt in ihrer Kammer mit dem russischen Ofen, in dem Holzscheit um Holzscheit verbrannte und uns wärmte. Lange erzählten die beiden Damen von ihrem Leben, von schweren Zeiten im Krieg, und später, in den 90er Jahren. Ich habe vieles nicht verstanden, aber ich spürte, dass ihre Tränen von traurigen und auch schrecklichen Zeiten zeugten.

Dann gab es auch viele Begegnungen auf der Strasse: „ah, von der Schweiz – ah, die Stiftung RADUGA, was für ein Segen!“ Jedermann scheint in Tarussa diese Schweizerstiftung und ihre Werke zu kennen, vor allem auch ihre Mitstifterin Monica Chappuis. Überall wurden mir Grüsse an sie mitgegeben.

Wir treffen Tatjana, sie wohnt in einem kleinen russischen Holzhaus in der Karl Liebknechtstrasse. Sie arbeitet von zu Hause aus mit dem Computer für eine Moskauer Firma und engagiert sich in der Kirche. Sie ermöglicht es, dass wir ein Schülerkonzert der Moskauer Musikakademie besuchen können und lädt uns in ihren Garten ein. Zwei Tage später begegnen wir uns wieder beim Spaziergang, sie lädt Tamara Michajlowna und mich zum Nachtessen in ihr kleines, einfaches und interessantes Haus ein. Eine vollgestopfte Küche zeugt von vielen Besuchen von Freunden und der Familie, die Bücherregale und die schönen Bilder an den Wänden von ihrem kulturellen Interesse. Sie erzählt aber auch von ihrem Bruder in Kiew, mit dem sie kaum mehr Kontakt hat, weil ihre politischen Meinungen sich zu sehr voneinander unterscheiden.

Wir besuchen Nina Grigorjewna (85) Sie besorgt ihr Haus mit grossem Garten mit Hilfe ihrer Tochter. Wie in jedem russischen Garten wird dort alles angepflanzt, was man im Laufe des Jahres zum Essen braucht, und dazwischen blühen wunderbare Blumen. Nina Grigorjewna sorgt auch für ihren Sohn (55), der geistig behindert ist. Sie erzählt aus ihrem Leben, und ich verstehe ihr Russisch sehr gut. Sie berichtet von der Arbeit in der Leinenweberei, wo früher 3‘000 Russinnen und heute noch 7 beschäftigt sind. Sie interessiert sich aber auch für mein Leben und das Leben in der Schweiz. Nach fast drei Stunden eindrücklicher Gespräche umarmt und küsst sie mich zum Abschied herzlich und begleitet uns noch ein Stück auf dem Nachhauseweg.

Eindrückliche Kirchen, Schulen und Landschaften lernte ich durch Irina Jurjiewna vom Informationsbüro kennen. Spontan entschloss sie sich, mir etwas von ihrer Heimat zu zeigen. Mit ihrem 20jährigen Auto (ihr Mann fahre einen neuen BMW, den liebe sie aber nicht so), das bei jedem Gangschalten ins Stocken geriet oder gar nicht mehr anlaufen wollte, zeigte sie uns die wunderbarsten alten Kirchen des Bezirks Tarussa und verträumte Landschaften. Einige der Kirchen sind eben erst vom gröbsten Schutt befreit, und doch findet man darin schon wieder kleine Altäre und Zeugen von Gebeten von Menschen. Diese Kirchen haben eine grosse Kraft, und man spürt den tiefen Glauben der Menschen. Das dieser Glaube auch heute noch lebendig ist, habe ich bei jungen und alten Menschen in den Sonntagsgottesdiensten erlebt und erfahren.

Wir besuchen das staatliche Pflegeheim mit Gerontopsychiatriestation. Die Bewohner dort scheinen zufrieden und aufgeschlossen. Sie erzählen gerne aus ihrem Leben. Für mich ist es ein Schock, die Zimmer sind kaum 8m2 gross und sehr einfach, wenigstens sind es Einzelzimmer, mit Küche und Bad auf der Etage. Einige dieser Zimmer sind aber auch mit drei bettlägerigen Bewohnern belegt – wie machen das die Pflegerinnen bloss? Durch die Türe lässt sich jedenfalls kein Bett schieben. Die Stationsschwester erzählt, dass sie für 80 Bewohnerinnen zuständig ist, allerdings hat sie daneben auch treue Hilfskräfte. Die Leiterin erklärt, dass private Heime mit viel grösseren Zimmern und Luxus ausgestattet wären. Aber es ist wie bei uns in der Schweiz, arme Menschen mit nur wenig Rente werden eben eher in staatlichen Heimen betreut.

Umso wichtiger, dass die Stiftung RADUGA Beispiele aufzeigt und Menschen unterstützt, damit sie möglichst gut selbständig leben können. Ich möchte noch viele Eindrücke wiedergeben, von Larissa, der Übersetzerin aus Tadschikistan, die mir mit ihrem grossen Wissen und ihrer persönlichen Meinung vom Leben in Russland heute und früher erzählt hat. Gerne werde ich im Herbst, wenn sie ebenfalls pensioniert ist, zu ihr nach Tarussa in den Russischkurs fliegen.

Beim Coiffeurbesuch mit Tamara, im Supermarkt und bei allen Menschen, denen wir auf der Strasse begegnet sind, wurde ich vorgestellt. Überall hört man von den segensreichen Taten der Stiftung RADUGA. Danke RADUGA! Bewegende Momente und tiefe Eindrücke durfte ich erfahren. Russland und Tarussa, deine alten russischen Holzhäuser, deine Kirchen und Gottesdienste, deine Menschen, deine Kultur, deine Lage am Flussufer, dein Friedhof im Birkenwald, ich hoffe, dass ich dich und deine Menschen noch besser kennen lernen darf.

Maria Koch Schildknecht

Cysatstrasse 1

6004 Luzern

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