Immer wieder erlebe ich es: einige Tage in Russland sind wie einige Wochen oder gar Monate bei uns im Westen – das Leben ist intensiver, deshalb auch anstrengender! Kommt wohl daher die unglaubliche Tragfähigkeit des russischen Volkes? – An was diese Intensität liegt? Vielleicht daran, dass die Russen dem Augenblick ihre volle Aufmerksamkeit schenken. Was gerade jetzt geschieht, ist ihnen wichtig. Ich versuche es auch so zu machen, während ich in Tarussa weile und möglichst viele unserer RADUGA-Freunde besuchen möchte. Und so bekommt das Leben mit einemmal mehr Inhalt!
Der Besuch auf dem Friedhof von Lopatino. Wir möchten Swetlanas Grab aufsuchen, zusammen mit ihrer Mutter. Wir haben Blumen mitgebracht, aber nicht daran gedacht, auch eine Plasticflasche mitzunehmen. Der Mann, der am daneben liegenden Grab wohl auch um jemanden trauert, hat unser Problem sofort erfasst: Schon hält er eine Flasche in der Hand, fragt uns, wo ungefähr er mit seinem Sackmesser den obersten Teil abschneiden soll, und reicht uns die Flasche – Wasser ist in der Nähe, das Problem ist gelöst. Das ist ein kleines grosses Ereignis. Es hat nur wenige Minuten gedauert, aber es erfüllt mich sehr!
Der Priester aus einem ziemlich weit entfernten kleinen und abgelegenen Dorf. Er hat umständehalber eine junge Frau aus der Ukraine aufnehmen müssen, die nun zusammen mit ihrem 7jährigen Sohn seit zwei Monaten in seiner Familie lebt. Er hat selber vier kleine Kinder, wenig Zeit, wenig Platz und wenig Mittel, die Situation wird belastend für ihn und seine Frau. Nun sucht er nach einer anderen Lösung für die Ukrainerin und hat deshalb mit ihr und ihrem Jungen RADUGA im Stiftungshaus aufgesucht. Das Problem ist in der Tat schwer zu lösen, die Frau bräuchte dringend die für den Aufenthalt benötigten Papiere, die von dem kleinen Dorf aus schwer zu beschaffen sind. Trotz grosser Bedenken – die junge Frau macht einen recht passiven Eindruck, sie ist wohl auch traumatisiert vom Kriegsgeschehen in ihrer Heimat – beschliessen wir, sie mit ihrem Kind vorübergehend im Stiftungshaus aufzunehmen, bis sie ihre Papiere und eine Arbeit hat. Sie sollen am Dienstag wieder kommen. Sehr erleichtert fahren die drei zurück. Acht Schicksale, von denen wir bisher nichts wussten und plötzlich viel erfahren haben: Ein junger Priester mit seiner Frau und vier kleinen Kindern in einem kleinen Dorf, eine Frau mit einem Kind, die den Krieg in der Ostukraine erlebt hat – nun sind sie zu einem Teil auch unseres Umfelds geworden. Eine Bereicherung. Auch eine Belastung.
Wir hoffen, Ljuba zuhause in Lopatino anzutreffen. Ljubotschka, inzwischen 21jährig, aber klein wie eine Zehnjährige, nach mehreren Operationen zwar imstande, ohne Hilfe zu gehen, aber noch immer auf hoffnungslos falsch gestellten schiefen Beinchen – daran wird auch die nächste Operation kaum etwas ändern. Ljubas „Zuhause“ gleicht von aussen eher einem grossen Schuppen. Über einen Hof, auf dem einige Bretter es dem Besucher ermöglichen, den aufgeweichten Lehm zu vermeiden, gelangt man in einen dunklen, übel riechenden Korridor, auf dessen beiden Seiten sich Tür an Tür reiht. Hinter jeder Tür ein Menschenschicksal, oder mehrere. Hinter einer dieser Türen also dasjenige von Ljuba. Sie lebt hier mit ihrer fast dauernd alkoholisierten Mutter, mehrere Versuche, sie in einer Lehranstalt unterzubringen, mussten leider abgebrochen werden, und auch an einer Arbeitsstelle wollte es nicht klappen. An wen, an was kann sie sich denn halten in dieser Umgebung? Sie hat keine gute Prognose. Aber sie kann doch etwas: Sie kann singen, und sie schreibt recht lustige Gedichte. Ljuba ist in der Tat zuhause, und sie empfängt uns, wie immer, strahlend. Auf die Frage, wie es ihr gehe, antwortet sie: Ich lasse den Mut nicht sinken! Den Mut zu was wagen wir nicht zu fragen, aber eigentlich wissen wir es ja: Den Mut zu leben. Zu leben in dieser Trostlosigkeit. Ljuba erzählt uns fröhlich, sie habe jetzt einen Freund, und das bereits seit mehreren Monaten. Da es bei ihr bestimmt kein Geld zu holen gibt, sie nicht mit einer guten Wohnung punkten kann und ihr Äusseres kaum verführerisch auf einen jungen Mann wirkt, wagen wir zu hoffen, er meine es ernst. Vielleicht ist es in der Tat ihr unverwüstlicher Frohsinn, der ihm gefällt? – Weiter weiss Ljuba zu berichten, irgendein entfernter Verwandter in Moskau habe ihr angeboten, ihr durch geeignete Massage das Gehen zu erleichtern, und ihr ausserdem empfohlen, zu schwimmen. Letzteres greifen wir gierig auf und versprechen ihr Hilfe, falls sie mit Schwimmen wirklich Ernst machen wolle.
Wir verlassen Ljuba mit gemischten Gefühlen. Es ist nicht das erste Mal, dass sie von irgendwelchen verlockenden Perspektiven erzählt, die sich dann in Luft auflösten. Was ist Dichtung, was ist Wahrheit? Nur eines wissen wir mit Bestimmtheit: Ljuba lässt den Mut nicht sinken. – Eine halbe Stunde bei Ljuba. Jedesmal ein Riesengewicht an Hoffnungen, Befürchtungen, offenen Fragen, Mutmassungen, Kopfzerbrechen, aber auch an Bewunderung und warmer Zuneigung für dieses vom Schicksal so schlecht ausgestattete tapfere Menschlein – ja, das Leben in Russland ist sehr, sehr voll!
Monica Chappuis
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