Anfang des Monats ging es mit dem Wetter noch so weiter wie der letzte Monat geendet hat. Mehr Wasser vom Himmel als Sonnenschein. Dann kam die Wende. Temperaturen im Schatten um die 34 Grad Celsius! Zwar ideales Wetter zum Heuen, trocknet das Gras doch in kürzester Zeit. Für alle diejenigen jedoch, die an dieser Arbeit teilnehmen, ist es eine echte Herausforderung. Viele begannen, mittags eine Siesta einzuhalten, um der grössten Hitze zu entgehen.
Wir alle wissen, dass Zwillinge eine spezielle Beziehung zueinander haben. Oft versteht der eine Zwilling ohne Worte, was der andere ihm sagen will. Solche Zwillinge waren die Nachbarn meiner Frau Natascha während ihrer Jugend. Sie sind heute 50, waren nie verheiratet, sondern lebten ihr ganzes Leben zusammen im alten Blockhaus ihrer heute verstorbenen Eltern. Jurij und Rudik waren unzertrennlich. Zusätzlich verband sie der Umstand, dass Jurij für seinen Bruder die Füsse bedeutete. Rudik hatte vor vielen Jahren bei Waldarbeiten einen Unfall, der seine Beinknochen mehrfach zertrümmerte, sodass er von einem Tag auf den andern gehbehindert war. Da sich niemand dieser Sache annahm, wuchsen die Knochen auch nicht richtig zusammen. Mit seinen bis zu den Achselhöhlen reichenden Krücken bewegt er sich nur mit Mühe. Arbeiten wie Wasser ins Haus tragen, Brennholz zubereiten, Lebensmittel einkaufen, den Garten umgraben und pflegen, waren die Aufgabe von Jurij.
Dieses bescheidene Leben nahm abrupt eine Wende, als Jurij vor einer Woche unerwartet an einem Herzversagen starb. Auf einen Schlag verlor Rudik nicht nur seinen Bruder und Freund, sondern auch seine „Beine“. Wer würde sich nun um ihn kümmern? Andere Verwandte haben die beiden nicht. Eine Invalidenrente hat er nie beantragt, und somit hat er auch keine Möglichkeit, in ein Behindertenheim zu gehen. Doch alleine schafft er es nicht. Zeit zum Nachdenken gab es nicht viel! Wir boten ihm an, dass er zu uns kommen könne, was er uns zuerst gar nicht glauben wollte. Er fragte mehrmals nach, ob es denn wirklich unser Ernst sei, uns diese Last anzutun. Drei Tage nach Jurijs Beerdigung brachten wir ihn in unser 900km von seiner Heimat entfernt gelegenes Dorf.
Hier stellte sich nun für uns gleich die Aufgabe und Herausforderung, wo und wie wir Rudik in unserer Gesellschaft integrieren. Früher hatte er mir immer gesagt, er sei „der Helfer“ seines Bruders. So haben wir begonnen, dieses Wort ständig in unsere Gespräche mit ihm einzufügen: „Rudik, hilf uns bitte in der Küche die Kartoffeln zu schälen!“ „Ohne Deine Hilfe ist es für uns schwer, dies oder jenes zu tun“. Mit grossem Eifer macht er sich dann jeweils an die Arbeit und führt sie sehr gewissenhaft aus. Von Tag zu Tag wird er mehr und mehr ein Teil unseres Kollektivs. Es ist wichtig, dass wir nun für ihn da sind, denn Wehmutsmomente werden noch öfters in ihm aufkommen.
Eine andere Aufgabe, mit der wir uns jetzt intensiv beschäftigen, sind drei Vollwaisen, die dieses Jahr die Berufsschule abschliessen und nun ins Leben gehen könnten, und sollten. Aber leider wurde diesen Jugendlichen im Kinderheim und dann in der Berufsschule alles gegeben ausser der Möglichkeit zur Selbständigkeit, auch in den alltäglichsten Dingen. Das Essen wurde ihnen gekocht, Zutritt zur Küche gab es nicht. Eigeninitiative und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, sind für sie fremd, denn sie hatten keinerlei Gelegenheit, sie zu üben und anzuwenden.
Alla, heute 20jährig, kam seit drei Jahren immer in den Sommermonaten zu uns auf den Hof, daher kennen wir sie und ihre Vorgeschichte bis in alle Details. Sie hat zwar Köchin gelernt, doch wie man aus einem Kochbuch dann etwas wirklich zubereitet, hatte im Unterricht irgendwie keinen Platz. Jetzt, wo sie fertig ist mit der Ausbildung und sich eine Arbeit suchen sollte, ist uns klar, dass sie da hoffnungslos verloren wäre. Was tun? In unserer Dorfküche wollen wir sie nun soweit bringen, dass sie eine Selbständigkeit aufbaut und lernt, Verantwortung zu übernehmen. Ich habe inzwischen die Fühler ausgestreckt und auch bereits zwei Restaurants gefunden, die bereit wären, ihr eine Chance zu geben. Wie heisst es so schön in einem Lebensmotto: „Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg!“
Das ist etwas, das ich uns allen schenken möchte! Möge die Situation im Leben auch noch so schwer sein und aussichtslos erscheinen, der Wille und der Glaube und die Hoffnung dürfen nie verloren gehen!
Mit freundlichen Grüssen
Jörg Duss
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