Wenn ich lese, was in Europa für Wetter herrscht, denke ich, beide Seiten wären wohl froh, wenn wir einander etwas abgeben könnten. Heute sind es draussen 12 Grad Celsius. Hier ist keine Rede von Sommer! Dann die Nässe! Es vergeht kein Tag, ohne dass von oben Feuchtigkeit kommt! In Anbetracht der Hitzeperiode, die Ihr durchmacht, könnten wir wahrhaftig einander neidisch sein. Daher wünsche ich uns jetzt das Gegenteil: Euch endlich kühlere Tage und Regen, und uns im Gegenzug Wärme, damit die Kulturen nun so richtig spriessen können.
Wie Sie alle wissen, bewirtschaftet RADUGA den Bio-Bauernhof Lagowschina, wo wir Menschen aus verschiedensten Gesellschaftsschichten und mit den unterschiedlichsten Lebensgeschichten ein ständiges Zuhause, oder auch einfach einen Ort für eine Übergangszeit bieten. Öfters werde ich in der letzten Zeit gefragt, was es denn für Menschen seien, die bei uns Zuflucht finden.
Wir haben für uns dazu verschiedene Kategorien erstellt. Als Erstes teilen wir die Menschen in die Gruppe ständiger Bewohner, und diejenigen, die auf ihrer Lebensreise eine Rast brauchen.
Ständige Bewohner sind hauptsächlich Behinderte und Waisen, die aus Heimen zu uns gekommen sind. Dazu gehören auch ehemalige Obdachlose, die hier einen festen Platz gefunden haben. Das ist erstaunlich, sind es doch oft Menschen, die jahrelang auf der Strasse gelebt haben und ständig auf „Wanderschaft“ waren. Verschiedene Psychologen, mit denen ich im Kontakt bin, halten das für seltene Fälle, da es normalerweise diese Obdachlosen nach einer gewissen Zeit wieder weitertreibt.
Die Menschen, die nur für eine gewisse Zeit zu uns kommen, sind unter anderem Frauen mit ihren Kindern, die häusliche Gewalt erlebt haben. Oder wiederum Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen vom Weg abgekommen sind, und sich im Leben neu finden und orientieren müssen. In diesen Fällen war oft Alkohol ein Auslöser. Hier hängt der Erfolg dieses Aufenthaltes fast gänzlich von den Betroffenen selber ab. Diejenigen, die für sich einen neuen Sinn oder ein neues Ziel im Leben definieren können, schaffen es, aus diesem Sumpf herauszukommen. Bei den meisten jedoch, und das ist leider die traurige Statistik, brachte der Aufenthalt nicht das gewünschte Resultat. Das ist die Realität, die ich gerne anders sehen würde, doch muss ich sie zur Kenntnis nehmen. Wir sind nicht allmächtig und können keine Wunder vollbringen.
Wichtig für das Wohlgefühl der Bewohner sind auch die Räumlichkeiten, die wir ihnen zur Verfügung stellen. Menschen, die jahrelang auf der Strasse gelebt haben, sind wie einsame Wölfe. Sie kommen bei uns in kleinen Hütten unter, wo sie alleine ihren Haushalt führen. Behinderte und Waisen aus sogenannten Internaten und aus Heimen sind es gewohnt, dass um sie herum viel los ist. Die leben bei uns in Wohnheimen, von denen wir eines für die Frauen und eines für die Männer haben.
So befinden sich auf unserem Dorf die verschiedensten Menschen, die sich anderswo wohl kaum getroffen hätten. Und da wir alle zusammen gemeinsam leben, arbeiten, essen und uns erholen ist eine kleine Gesellschaft entstanden, über die man ganze Bücher schreiben könnte! Für RADUGA ist es sehr wertvoll, die Möglichkeit zu haben, diesen Menschen ein Dach über dem Kopf, Essen und Arbeit zu geben. Im Stiftungshaus wäre das alles gar nicht möglich.
Lagowschina ist bestimmt eines unserer originellsten und wirksamsten Projekte!
Mit freundlichen Grüssen
Jörg
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