In der zweiten Hälfte des Monats hat uns Frau Holle so viel Schnee geschickt wie im ganzen letzten Winter nicht. Die Kinder freute es, konnten sie doch gleich ihre Schlitten hervorholen und die ersten Schussfahrten absolvieren. Die Frage, die wir uns nun stellen: Bleibt der Schnee jetzt bis im Frühling, oder taut es noch einmal ab?
In der heutigen Zeit stelle ich immer wieder Folgendes fest. Die Menschheit hat zwar eine sehr hohe technologische und sozioökonomische Ebene erreicht, doch gleichzeitig wird sie mit verschiedenen Verlusten konfrontiert. Dies sind insbesondere verwischte moralische Werte, sowie der Verlust der Lebensorientierung. Viele suchen einen Sinn und ihre Mission auf diesem Planeten. Die uns zurzeit beherrschende Corona-Krise verstärkt bei vielen noch diese Gefühle.
Bei uns tauchen immer wieder solche Menschen auf, die genau auf der Suche nach dem Sinn in ihrem Leben sind. Viele wollen die Reset-Taste drücken, was ihrer Meinung nach mit Sicherheit diesen unumgänglichen Transformationsprozess einleiten würde.
Den Grossteil der bei uns Neuankommenden machen zweifellos die Obdachlosen aus. Unter unseren nun „ehemaligen“ Obdachlosen ist ein Grossteil psychisch „angeschlagen“. Diese Personen sind jedoch nirgends registriert, noch tauchen sie in irgendeiner medizinischen Kartei auf. Nach Gesprächen mit Psychologen und Psychiatern bekomme ich von allen die gleiche Antwort: Diese Menschen benötigen spezielle Medikamente, doch es ist unwahrscheinlich bis unmöglich, dass sie diese beschaffen können. Die Direktorin des Alten- und Behindertenheims, Lydia Jewgenjewna, erklärte mir, dass bei ihnen vier Personen unterschreiben müssen, bevor sie solche Medikamente ausgeben können. In diesem Fall sind das die betreuende Krankenschwester, die Oberschwester, die Chefärztin und die Direktorin.
Wir „auf dem Feld“ müssen andere Wege suchen, den Menschen zu helfen. Die oft spürbare innere Unruhe versuchen wir in Gesprächen an die Oberfläche zu holen, und auch die physische Ermüdung bei schwerer körperlicher Arbeit kann hilfreich sein. Ich weiss nicht, wie hoch die Erfolgsquote ist bei medikamentöser Behandlung, aber bei meinen Techniken wäre ich froh, wenn ich auch nur bei der Hälfte läge!
Vor kurzem spielte sich wieder ein für mich negatives, ja trauriges Beispiel ab. Mitten in der Nacht stand ein psychisch Kranker auf, zog sich aus und zog in unbekannter Richtung davon. Michail, der 57 jährige Obdachlose konnte keine fünf Sätze mit demselben Inhalt hintereinander packen. Er wechselte das Thema nach jedem Satz. Dies widerspiegelte «hörbar» seine Verwirrtheit. Es passierte, dass er mitten in der Nacht in die Scheune ging und die Schweine fütterte. Als ich ihm erklärte, dass die Tiere auch schlafen möchten, liess er die Schweine in Ruhe und beschäftigte sich mit den Kühen, in derselben Weise.
Mehrere meiner Versuche, für ihn eine passende Betreuung zu finden, waren erfolglos. Er schaffte es, aus einer kleinen Arbeit eine ganze „Doktorarbeit“ zu kreieren. Dabei trieb er sich selbst in die Ecke, diese Arbeit wuchs ihm langsam aber sicher über den Kopf hinaus. Sie beschäftigte ihn dermassen, dass er sogar die Essenszeiten vergass und wir ihn öfters dafür suchen mussten.
Es ist einfach traurig und bedrückend, ein solches Ereignis erleben zu müssen. Man versucht alles zu tun, was in den eigenen Kräften steht, um diesen Menschen zu helfen. „Alles, was im Leben passiert, hat seinen Sinn“, sagen die Russen. Was mich solche negativen Beispiele lehren oder mir aufzeigen wollen, konnte ich bisher für mich allerdings nicht herausfinden.
Was für mich jedoch erstaunlich war, Michail spielte sehr gut Schach. Er ist und bleibt der einzige aller unserer Bewohner, der mich bisher schlagen konnte. Wenn ich mit ihm spielte, hatte ich viel Zeit, ihn zu beobachten und zu studieren. Seine wirren Gedanken konnte er in dieser Zeit irgendwie bündeln und sich komplett auf das Spiel konzentrieren. Und ich, so fest wie ich mich auch auf der anderen Seite des Brettes reinhängte, ich ging als Verlierer vom Platz.
Ansonsten ist zu berichten, dass die Corona-Ansteckungsziffer bei uns steigt und steigt. Die Behörden tun sich äusserst schwer damit, sich für „schliessende Massnahmen“ zu entscheiden. Die Wirtschaft würde wohl zusammenbrechen, was einen Effekt auslösen würde, der nur schwer zu kalkulieren ist. So scheint mir, sucht man einen Mittelweg. So wie es aussieht, wird uns das Ganze noch länger im Atem halten.
Mit freundlichen Grüssen
Jörg Duss
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