Der November hatte anfänglich die gleichen Absichten wie schon der Oktober davor. Die ungewöhnlich warmen Temperaturen begleiteten uns die erste Zeit. Danach traten Regenfälle ein, was für die ländliche Bevölkerung die Fahrwege wieder in Schlitterpartien verwandelte. Endlich, gegen Ende des Monates, zeigte sich das erste Mal Väterchen Frost. Dies geschah aber noch mit angezogener Handbremse, sodass der Matsch auf den Wegen noch nicht gleich gefror. Fazit in diesem Jahr, so oder so müssen wir uns damit abfinden, dass wir einen massiv verspäteten Winter haben.
Im letzten Monatsbericht habe ich Ihnen von unseren beiden neuen Bewohnern geschrieben. Wladislaw und Sergej haben sich unterschiedlich bei uns eingelebt. Der ehemalige Oberst der Moskauer Polizei ist sehr zielorientiert. Man spürt bei ihm förmlich, dass er so schnell wie möglich sein Leben wieder in den Griff bekommen will. Im Laufe der nächsten Wochen sollten seine Papiere fertig sein, und ich denke, er wird dann nicht mehr lange warten und wieder zurück in ein normales Leben gehen.
Bei Sergej, dem alkoholabhängigen ehemaligen Lehrer für Englisch, ist es schwieriger. Der Alkohol ist der störende Faktor bei ihm für den Start in ein neues Leben. Alle seine guten Vorsätze nehmen jedes Mal abrupt ein Ende, sobald Alkohol ins Spiel kommt. Da bei uns auf dem Hof solche „Manöver“ nicht geduldet werden, denke ich, dass auch er nicht mehr so lange auf dem Dorfe bleiben wird. Solchen Menschen fehlt bei uns die „Freiheit“, ihre Suchtprobleme in Ruhe auszuleben!
Ich weiss nicht wieso, vielleicht brauchte mein Gehirn eine Ablenkung, wohl deshalb habe ich in den letzten Wochen ein kleines Projekt gestartet. Ich erinnerte mich daran, wie meine Mutter immer verschiedene Gerichte in grösseren Mengen zubereitete, um dann einen Teil einzufrieren. Bei Bedarf konnte man sich dann aus der Tiefkühltruhe etwas herausholen und in Kürze eine Mahlzeit zubereiten. So z.B. mit der Bolognese-Sauce. Als Erstes führte ich so einen kleinen Kochkurs im Dorf durch, an dem auch alle Kinder beteiligt waren, indem sie die Zutaten zuschnitten. Mit drei Kilogramm frischem Rindsgehacktem bekamen wir dann am Schluss eine schöne Menge fertiger Sauce, die wir in mehrere Behälter abfüllten, um sie einzufrieren. Als wir dann für alle Bewohner eine solche Mahlzeit zubereiteten war das Echo mehr als positiv. Für alle war es ein Gericht, das sie das erste Mal im Leben assen, doch dies hinderte keinen von ihnen, sich bis zu drei Portionen zu holen! Anschliessend machte ich noch eine Currysauce, die bei allen den gleichen Erfolg hatte.
Nach diesem positiven Resultat führte ich in Tarussa ebenfalls so einen kleinen Kochkurs durch, an dem zehn interessierte Hausfrauen teilnahmen. Wie ich bis jetzt gehört habe, waren dann zuhause alle Mitbewohner ebenfalls begeistert von dieser neuen Mahlzeit. So fand ein kleiner Kulturaustausch statt!
Dies brachte mich dann wiederum auf die Idee, nun wochenweise den Alltag länderspezifisch zu gestalten. So wählen wir jetzt jede Woche ein Land aus, wo wir uns kulinarisch, soweit das in unseren Möglichkeiten liegt, aber auch allgemein Wissen über dieses Land aneignen. Einstimmig wollten alle, dass wir mit der Schweiz anfangen. So erfuhren die Bewohner in verschiedenen Treffen mehr über meine alte Heimat, wie Hauptstadt, Sprachen, Kultur, Geschichte, geografische Besonderheiten usw. Speziell den Kindern macht es Spass, so mehr über ein Land zu erfahren. Jetzt sind gerade heisse Diskussionen im Gange, welches Land das Nächste sein wird.
Vor zwei Tagen hatte ich eine Anfrage von einer Lehrerin, ob wir einen 14 jährigen Knaben am Wochenende oder in den Schulferien bei uns aufnehmen könnten. Er wächst ohne Vater auf, und benötige nach ihren Aussagen etwas „Erziehung“ für seine weitere Entwicklung. An einem der kommenden Wochenenden will sie mit der Mutter zusammen bei uns vorbeischauen, um mal in Ruhe die Sache vor Ort zu besprechen. Ich bin nicht abgeneigt, solche Jugendliche bei uns aufzunehmen. Dosierte körperliche Arbeit hat noch keinem geschadet.
Seit einer Woche lebt bei uns noch ein junger Mann, und zwar der 22 jährige Maxim. Von Geburt an ist er behindert, und das macht sich in seiner Persönlichkeitsentwicklung bemerkbar. Er ist wie ein 5 jähriger, und zudem fehlen ihm alle Gefühle, die mit dem Essen zu tun haben. So kennt er kein Sättigungsgefühl, und ebenso vermisst er das Hungergefühl. Für uns heisst das, dass wir ihn zu allen Mahlzeiten zum Essen auffordern müssen, und gleichzeitig schauen, dass er nicht zu viel isst.
Aber wie kam Maxim zu uns? Er ist ohne Mutter, nur mit dem Vater aufgewachsen. Dieser war bei einem Autounfall mit schwersten Beinbrüchen ins Spital eingeliefert worden, und Maxim musste irgendwo unterkommen. Hier kann ich gleich anfügen, dass er sich bis jetzt hier sehr gut eingelebt hat. Unsere Ljuba, die ebenfalls von Geburt an behindert ist, hat sogleich einen guten Draht zu ihm gefunden, sodass die beiden jetzt zusammen für den Unterhalt der Tiere auf dem Hofe zuständig sind. Zum Glück haben wir als Stiftung RADUGA die Möglichkeit, in solchen Fällen auf das Bauernhofprojekt zu greifen, denn sonst hätte ich nicht gewusst, wo ich den jungen Mann so auf die Schnelle hätte unterbringen können.
Wie Sie sehen, geht uns die Arbeit nicht aus!
Liebe Grüsse
Jörg
COMMENTS