Gibt es wohl jemanden in unserer Gegend, der es schon einmal erlebt hat, dass uns bis tief in den Herbst hinein solch warme und sonnige Tage die Gemüter erwärmten? Jetzt ist Ende Oktober, und an vielen Bäumen hängen immer noch die Blätter. So etwas gab es wahrhaftig noch nie. Anderseits finden Sie auch niemanden, der etwas gegen diesen verlängerten schönen goldenen Herbst hätte! Jetzt sind wir mal gespannt, wann Frau Holle ihre Arbeit beginnen will. Für uns müsste es noch nicht im November sein!
Kürzlich hatte ich ein Erlebnis, das mich bedenken liess, dass man auch am schwärzesten Tag sicher sein kann, dass es Menschen gibt, denen es noch schlechter geht. Dann fühlt man sich wieder geerdet!
Eine uns bereits bekannte Auffangstelle für Obdachlose in Moska, bat mich, einmal vorbei zu kommen, sie hätten zwei neue Bewohner, die vielleicht für Lagowschina in Frage kämen. So lernte ich Wladislaw und Sergej kennen. Ich merkte schon nach kürzester Zeit, dass diese beiden sich komplett unterschieden von den restlichen Bewohnern. Ihr sehr gepflegtes Auftreten und ihre ebensolche Sprache fielen auf. Nun aber der Reihe nach.
Der 65jährige Wladislaw ist ehemaliger Oberst der Moskauer Polizei. Nach vierzig Jahren Ehe verstarb seine Frau innert kürzester Zeit an Krebs. Durch diese plötzliche Veränderung in seinem Leben fiel er in eine schwere Depression. Dies nutzten sein Sohn und seine Schwiegertochter, übrigens beide auch bei der Polizei arbeitend, eiskalt aus. Sie überschrieben seine Wohnung in Moskau und die Datscha auf sich. Dann brachten sie Wladislaw auf die Datscha, erlaubten ihm jedoch nicht, ins Haus zu gehen, sondern schlossen ihn in einen Schopf ein und versorgten ihn mit Alkohol.
Während dessen entwendeten sie ihm alle Papiere wie Pass, Pensionskarte, Krankenversicherung usw. .Mit seinem Pass und mit gefälschten Unterschriften beschafften sie sich grosse Kredite. Nachdem sie alles, was möglich war, aus ihm „herausgesaugt“ hatten, schickten sie ihn auf die Strasse. Für einen Menschen, der noch vor kurzem ein geregeltes Leben geführt hatte, war das natürlich ein wahrer Alptraum. Auf der Strasse zu überleben schaffen bei weitem nicht alle! So landete er in dieser Sammelstelle für Obdachlose und flehte die Betreuer mehrmals an, auch während meiner Anwesenheit, sie sollten ihn doch nicht wieder auf die Strasse schicken, er schaffe es nicht, dort durchzukommen.
Nach kurzem Gespräch mit allen Beteiligten beschlossen wir, dass er für eine gewisse Zeit zu uns kommen soll, um sich wieder etwas zu fangen. Er braucht jetzt Ruhe, um sich zu sammeln und sein Leben neu zu planen. Er ist sehr intelligent, und ich bin überzeugt, sobald er aus diesem tiefen Loch wieder herauskommt, wird er wieder ein einigermassen normales Leben führen können. Was wir jetzt natürlich machen müssen, ist ihn wieder zu legalisieren, das heisst alle seine Papiere wieder herzustellen. Zum Glück haben wir hier ein gutes Netzwerk bei den Behörden, sonst wäre das relativ schwierig.
Neben Wladislaw sass Sergej, der sich dieses Gespräch ruhig mit angehört hatte. Als ich mich dann ihm zuwandte, fing er an mit mir Englisch zu sprechen. Auf meine Frage, wo er denn Englisch gelernt hatte, erklärte er mir, dass er als Professor für Englisch an der Moskauer Staatlichen Universität gearbeitet hatte. Vom Professor an der prestigeträchtigen Universität auf die Strasse von Moskau schafft nun wirklich nicht jeder! Die traurige Ursache: Alkohol. Nach der Scheidung wurde bei ihm der Alkohol zum Problem. Verschiedene Versuche davon abzukommen sind bei ihm gescheitert. Versuchen wir es in Lagowschina, war dann das Resultat der Unterhaltung. Wir alle wissen, dass die Chancen leider nicht sehr gross sind, doch versuchen können wir es! Und es ist immer noch besser als auf den Strassen in Moskau, oder auf dieser Auffangstelle.
So fuhr ich mit zwei sehr interessanten Gesprächspartnern „im Gepäck“ zurück ins Dorf. Während der Fahrt konnte ich förmlich spüren, wie froh die beiden waren, dass ihr Leben jetzt eine solche Wendung nahm. Für beide war die Strasse die reinste Hölle gewesen.
Ich meinerseits, am Steuerrad sitzend, hatte die Gelegenheit, vieles im Leben zu relativieren. Geht es doch so vielen Menschen auf dieser Erde noch viel schlimmer als uns! So lernt man wieder schätzen, was man hat!
Liebe Grüsse
Jörg
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