Monatsbericht September 2020Picknick auf dem Bauernhof

Monatsbericht September 2020

Ein Wettermonat, über den man sich wahrhaftig nicht beklagen darf. Viel Sonnenschein, warme Tage ermöglichten allen Hobbybauern und Landwirten in Ruhe die Ernte einzubringen. Es war kein Ertrag, an den man sich noch Jahre daran erinnern wird. Doch beklagen dürfen wir uns nicht. Im kommenden Monat soll das Wetter im selben Stil weitergehen, was dann den so berühmten „goldenen Herbst“ bringen würde.

Wie oft im Leben benötigt der Mensch einen Rückhalt von Verwandten, Bekannten und Freunden? Lebt man in der gewöhnlichen Gesellschaft, bekommt man solche Schicksalsschläge nicht so häufig mit. RADUGA hatte zwar ab und zu so einen Fall. In den letzten Wochen und Monaten hat sich aber die Zahl solcher Schicksalsschläge, mit denen wir konfrontiert werden, dramatisch erhöht. Was ist der Grund dafür? Hat es wohl damit zu tun, dass unser Bekanntheitsgrad stetig steigt? Oder ist die Situation um die Pandemie dafür verantwortlich? Wahrscheinlich beides!

Vor einer Woche kam ein Mann mittleren Alters zu uns ins Stiftungshaus, der sich als Igor Petrowitsch vorstellte. Auf den ersten Blick war zu erkennen, dass er sehr verwirrt war. Seine Augen irrten im Raum umher, seine Hände waren unruhig, die Finger bewegten sich, als ob sie eine Knetmasse bearbeiten würden. Es war schwer, in seinen Sätzen eine Art roten Faden zu finden. Seine Stimme vibrierte so, wie wir es von Kindern kennen, bevor sie anfangen zu weinen. Bei einem Tee und ein paar Süssigkeiten gelang es uns, seine emotionale Nervosität etwas herunterzufahren. Das Gespräch dauerte über eine Stunde, weil wir merkten, dass er, je mehr er sich öffnete, innerlich etwas ruhiger wurde.

Was war geschehen, was brachte ihn in diesen Zustand?

Vor einem Jahr musste er mit seiner Frau zusammen den Schicksalsschlag verkraften, dass sich ihr 17 jähriger Sohn das Leben nahm. Er hatte komplett introvertiert gelebt. Sass tagelang in seinem Zimmer und beschäftigte sich mit dem Computer oder seinem Telefon. Er hinterliess eine ungeklärte Frage und eine grosse Leere, denn bis heute kann niemand sagen, was wirklich der Grund war für seine Handlung. Für die Eltern war dies ein furchtbarer Schlag, ein Schock, den sie offensichtlich nicht überwinden konnten. Er habe danach seiner Frau immer vorgeschlagen wegzuziehen, in eine andere Wohnung, an einen anderen Ort, um zu vergessen, sagte der Mann. Es gelang ihm aber nicht, sie zu überzeugen oder umzustimmen.

Und jetzt? Vor zwei Tagen, als er nach Hause kam, fand er seine Frau genau gleich vor, wie vor einem Jahr seinen Sohn. Nach diesen Schilderungen konnte er seine Gefühle nicht mehr im Zaum halten. Mit nassen Augen bat er uns, wir sollten ihm doch die Möglichkeit geben, eine Zeit auf unserem abgelegenen Hof zu arbeiten. Er würde alles machen. Er brauche einfach Abstand. Er wolle nicht zurück in diese Wohnung.

Seine Bereitschaft war so gross, dass er umgehend mit mir hinaus aufs Dorf fuhr. Er hatte, wie sich herausstellte, bereits in seiner Tasche die Sachen eingepackt, die er für seinen Aufenthalt im Dorf für nötig hielt. Er wollte gar nicht mehr nach Hause, er wollte weg. So lebt und arbeitet er nun bei uns auf dem Hof. Das neue Umfeld tut ihm gut, hilft es ihm doch, die Gedanken anders zu ordnen. Durch die körperliche Arbeit sei er am Abend so müde, dass er wieder besser schlafen könne, sagte er.

Wir halfen ihm dann auch bei der Organisation der Beerdigung, da er in der Umgebung keine Verwandten hat; die Familie war erst vor ein paar Jahren nach Tarussa übergesiedelt.

Wir sind uns bewusst, dass er noch lange brauchen wird, um alles Erlebte einigermassen zu verdauen. Druck hat er keinen. Soviel Zeit wie er benötigt, soviel Zeit werden wir ihm geben.

Mit freundlichen Grüssen
Jörg Duss

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